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Past Production Reviews

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Hänsel und Gretel, Humperdinck
D: Erik Raskopf
C: Hermann Bäumer
„Hänsel und Gretel“ im Staatstheater Mainz: Es war in der Erdbeerzeit

Humperdincks „Hänsel und Gretel“, sonst eher ein Fall für den Advent, beendet überaus sinnig die Lockdown-Monate im Großen Haus des Staatstheaters Mainz. Hinterher will man zwar trotzdem einen Weihnachtsbaum kaufen, aber es gibt keinen triftigen Grund, Engelbert Humperdincks „Hänsel und Gretel“ für saisonal zu halten. Im Gegenteil werden hier Erdbeeren gepflückt, Tautropfen funkeln in der Sonne, und es ist möglich, im Freien zu übernachten, ohne zu erfrieren. Auch wenn dafür die einschlägigen 14 Englein gewiss zu jeder Jahreszeit sorgen könnten, spielt die Handlung offenbar im Frühsommer, und es ist logisch und angemessen, dass das Staatstheater Mainz die Rückkehr ins Musiktheater vor Ort mit dieser Oper feiert.Einer Oper, deren kompositorisches Großformat vielleicht an einem unweinerlichen Junitag erst recht auffällt: die brünnhildische Komponente von Gretels „Kikeriki“, die Verwandtschaft zwischen Hexen- und Mime-Gesäusel. Es mag aber auch damit zusammenhängen, dass Hermann Bäumer einen ganz unpossierlichen Humperdinck dirigiert, einen ernsten, in die Breite gehenden. Und dass Maren Schwiers Gretel bei aller Kindhaftigkeit in Gestalt und Spiel als Sopran einen Dreh ins Dramatische hat. Alexander Spemann als Knusperhexe ist ohnehin von luxuriösem Tenorformat. Erik Raskopf – zuständig für Regie und Ausstattung – hat ihn als stramme Scharteke aus dem 19. Jahrhundert zurechtgemacht. Nichts Volkstümliches haftet ihr an. Die Frisur sitzt. Auch im Mainzer Großen Haus ist nichts normal, aber dafür hat sich eine schicke Lösung gefunden. Die Premiere ist als „halbszenisch“ angekündigt, es geht jedoch lebhaft zur Sache. Das Orchester ist in drei Blöcke geteilt, dazwischen schlängelt sich ein besonders schlängeliger Weg, der hinten in einem Waldprospekt endet. Hager und ungemütlich Weg und Wald, mehr Expressionismus und Tim Burton als Märchenglanzbild. Das Hexenhaus bleibt vage, der Süßkram reizt wenig, das Gartentor gehört eindeutig in einen Gruselfilm. Dirigent Bäumer steht sehr hoch, vielleicht damit auch die weit hinten postierten Blasinstrumente noch etwas sehen. Dafür, dass die Musiker und Musikerinnen Schwierigkeiten haben dürften, sich gut zu hören, funktioniert das gut. Die Stimmen kommen zur Geltung. An Gretels Seite hüpft Solenn’ Lavanant-Linke, auch sie flink und fidel, ohne sentimentale Niedlichkeiten und mit beweglichem, tragendem Mezzo. Ein kleiner, forscher, überforderter Junge. LESEN SIE AUCH Corona: Dieser Impfstoff ist als Booster nahezu wirkungslos Corona: Dieser Impfstoff ist als Booster nahezu wirkungslos In Deutschland schreitet die Impfkampagne voran. Boostern heißt das Zauberwort. Doch ein Impfstoff eignet sich dazu laut einer Studie überhaupt nicht. Corona: Dieser Impfstoff ist als Booster nahezu wirkungslos Frankfurt: Heddernheimer wehren sich gegen „Querdenken“-Demos Frankfurt: Heddernheimer wehren sich gegen „Querdenken“-Demos Zwei Bürgerinitiativen schließen sich gegen die „Querdenken“-Bewegung in Frankfurt zusammen. Sie wollen den öffentlichen Raum im Stadtteil Heddernheim zurückgewinnen. Frankfurt: Heddernheimer wehren sich gegen „Querdenken“-Demos Raskopf entwickelt die Handlung klassisch, aber herb. Er macht im Hintergrund einen Punkt, indem es von Anbeginn an die Hexe ist, die die Fäden zieht. Auch Mutter und Vater, Linda Sommerhage und Peter Felix Bauer, werden schon von ihrem Zauberstab (Zauberkrückstock) manipuliert. Von der Hexe bekommt die Mutter zudem zur Ouvertüre die Unglück bringende Milch geschenkt. Ein Gruseleffekt in einer unbehaglichen, insgesamt wenig psychologischen Lesart – einer Lesart, die die Psychologie der Fantasie des Publikums überlässt. Möglich waren noch ein paar Spielereien. Für den eingesperrten Hänsel kommt ein Holzkäfig von der Decke herunter, Taumännchen, Heejoo Kwon, kann fliegen, Sandmännchen, Yuuki Tamai, entzündet Kerzen für die schlafenden Geschwister, die im Vollmondlicht attraktiv glimmen. Es gibt ein rotglühendes Loch im Boden, in das die Hexe hineingeworfen werden kann. Als Hänsel und Gretel auch den vorzüglich singenden, darstellerisch sympathisch dilettierenden Kinderchor gerettet haben, taucht endlich der Herr Vater auf, um direkt die Schlussnummer zu singen. Wie die Erwachsenen zu spät kommen, von den Kindern aber dennoch begeistert und erleichtert empfangen werden; wie die Kinder, die eben noch alles geregelt haben, sich gutwillig belehren lassen und in den Chor einstimmen: Es ist immer wieder verblüffend und aufschlussreich, das zu sehen. Die Mainzer Produktion legt es friedfertig bloß. Selbst beim Einlasspersonal bedankte sich das Publikum im Anschluss für den schönen Abend.

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07 June 2021www.fr.deJudith von Sternburg
Victor/Victoria, Mancini, Henry
D: Erik Petersen
C: Samuel HogarthTjaard Kirsch
Es funkelt der Genderstern

Das Staatstheater in Mainz zeigt das Musical „Victor/Victoria“ um eine Frau, die einen Mann spielt, der eine Frau spielt. Hinter der Verwirrung steckt Kalkül. Denn mit den Denkmustern der Geschlechteraufteilung soll gebrochen werden. Am Ende eines langen Musical-Abends sind sie alle ein ganzes Stück ehrlicher zu sich selbst. Der Bodyguard Squash Bernstein erkennt, dass er hinter der Fassade des Muskelmanns im schwarzen Anzug perfekt seine Homosexualität verborgen hat. Sein Chef, der zwielichtige Halbwelt-Geschäftsmann King Marchan, hat immerhin den Gedanken zugelassen, dass er schwul sein könnte. Denn die Show-Künstlerin Victoria Grant geht ihm nicht mehr aus dem Kopf, ganz egal, ob sie Männer- oder Frauenkleider trägt. Auch sie entscheidet sich am Ende des Musicals „Victor/Victoria“ dafür, authentisch zu sein und als Frau zu leben, nachdem sie zuvor, in ihrer Rolle als Kunstfigur Victor Grazinsky, einen in Frauenkleidern auftretenden polnischen Grafen gegeben und dem Pariser Publikum erfolgreich den Kopf verdreht hat. Das im Paris der frühen Dreißigerjahre spielende Musical auf das Buch von Blake Edwards und zur Musik des mehrmaligen Oscar-Preisträgers Henry Mancini war bei der Uraufführung 1995 am New Yorker Broadway ein großer Erfolg – mit Julie Andrews in der Titelrolle, die sie schon drei Jahre zuvor im gleichnamigen Film gespielt hatte. In der Neuproduktion des Musicals im Großen Haus des Staatstheaters Mainz kann sich Regisseur Erik Petersen auf ein starkes, den Premierenabend weitgehend tragendes Musical-Ensemble verlassen, auch wenn in den Hauptrollen einzig Zodwa Selele als Victor/Victoria mit voller darstellerischer, musikalischer und tänzerischer Präsenz aufwartet. Nur der Ohrwurm fehlt Die Frage nach der sexuellen Orientierung, die Edwards und Mancini zwar swingend und im mitreißenden Bigband-Sound, aber trotzdem ernsthaft und bei aller Pointierung mit Fingerspitzengefühl stellen, hatte das Publikum bei der Uraufführung sicherlich viel seltener gehört, als es heute der Fall ist. Erst allmählich entwickelt sich eine breitere Sensibilität dafür, dass nicht alle Personen auf ein Geschlecht festzulegen sind. Gerade das drückt sich in der Verwendung des Gendersternchens aus, das Regisseur Petersen eher unbekümmert platziert, wenn er zum großen Finale „Victor*ia“ in Leuchtbuchstaben auf die Bühne hebt und darunter, in der Ausstattung von Kristopher Kempf, die Hauptfiguren in geteilten, halb Anzug, halb Kleid darstellenden Kostümen auftreten lässt. Doch Zweifel, welchem Geschlecht er angehört, hatte auf der Bühne zuvor niemand aufkommen lassen, auch wenn sich das aus der Figur von Victor/Victoria durchaus hätte entwickeln lassen. Im Vordergrund steht das Revuehafte, um das sich Bariton Michael Dahmen in der Rolle des Toddy, Chansonnier, Sympathieträger und Erfinder der Victor-Figur bemüht, ebenso Henner Momann als King Marchan, Beatrice Reece als überdrehte und sehr heterosexuelle Norma sowie Stefan Reil als, warum auch immer, bajuwarisch vor sich hin grummelnder Squash Bernstein. Gesungen und gesprochen wird überwiegend in der deutschen Übersetzung von Stefan Huber. Wenn einige der Gesangstexte von Leslie Bricusse doch auf Englisch zu erleben sind, zündet das Szenische gleich noch mehr – erst recht, wenn Zodwa Seleles Victoria daran beteiligt ist. Ein Manko: Dem Musical fehlt eine Melodie mit echtem Ohrwurm-Potential, wie sie Mancini, dessen Tod ihn an der schließlich von Frank Wildhorn vorgenommenen Fertigstellung des Musicals hinderte, Jahrzehnte zuvor in den Sinn gekommen war – mit „Moon River“ aus „Frühstück bei Tiffany“ oder dem „Pink Panther Theme“. Dass auch in dieser Musical-Produktion die akustische Verstärkung zu laut eingestellt ist und dass es nicht lustig wird, nur weil in Mainz einer „Wiesbaden“ sagt, gehört zu den Schwächen des Abends, die fulminant zündende Begleitung durch das von Tjaard Kirsch geleitete Philharmonische Staatsorchester dagegen zu seinen klaren Stärken.

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10 November 2021www.faz.netAXEL ZIBULSKI