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Past Production Reviews

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Carmen, Bizet
D: Matthias Schönfeldt
„Carmen“ von Georges Bizet im Wilhelma-Theater Stuttgart RIESIGE GESICHTER IM HINTERGRUND Premiere „Carmen“ von Georges Bizet mit der Musikhochschule Stuttgart am 10. Juni 2015 im Wilhelma-Theater

Irgendwie macht der Regisseur Matthias Schönfeldt Friedrich Nietzsches unsäglichen Vergleich von Georges Bizets Oper „Carmen“ mit den Musikdramen Richard Wagners zum Ausgangspunkt seiner in moderne Zeiten versetzten Inszenierung, die die mediterrane Stimmung der spanischen Mentalität nicht immer gleich überzeugend einfängt. Man sieht einzelne Personen in Kammern sitzen, die sich zu schminken scheinen (Ausstattung: Kersten Paulsen). Eine Drehbühne lenkt den Blick auf ein kahles Zimmer, in dem sich viele entscheidende Szenen dieses Liebesdramas abspielen. Die unifome Männerwelt, in der sich Don Jose aufhält, nachdem er seine Verlobte Micaela verlassen hat, wird bei dieser Inszenierung nicht so recht greifbar. Tianji Lin als Don Jose und Maria Taxidou als Micaela gelingt es mit ausdrucksvollem stimmlichen Timbre, den Personen eine starke Aura zu geben. Als Jose allerdings Carmen begegnet, lebt diese besondere Begegnung ganz von der unmittelbaren Ausstrahlungskraft Taxiarchoula Kanatis, die mit ebenso schlanken Kantilenen als auch kraftvollen vokalen Ausbrüchen das Publikum für sich einnehmen kann. Micaela appelliert hier tatsächlich vergeblich an Don Joses Familiensinn. Man sieht immer wieder riesige Gesichter im Hintergrund, die Don Jose ins Gewissen reden – allen voran Carmen in einer überdimensionalen Videoprojektion. Sie stürzt Don Jose bald in abgrundtiefe Verzweiflung. Carmen flirtet nun auch mit dem von Philipp Schulz forsch verkörperten Leutnant Zuniga, doch die starke Liebe zu Jose lässt diese Zuneigung rasch erkalten. Das arbeitet der Regisseur Matthias Schönfeldt trotz mancher szenischer Schwächen überzeugend heraus. Micaela schreibt in krampfhafter Eile zahllose Briefe an die Holzwand und versucht, Don Jose wieder ganz für sich zu gewinnen. Das raffinierte Tausch-Spiel mit Identitäten und großen Gefühlen gelingt Schönfeldt beim Treffen Carmens mit ihren Freunden Mercedes, Frasquita, Dancairo und Remendado (allesamt nuancenreich: Lisbeth Juel Rasmussen, Dafne Boms, Thomas Roeshol, Thembinkosi Mgetyengana) recht gut. Der von Vladislav Pavliuk voluminös dargestellte Stierkämpfer Escamillo reisst hier bald die Aufmerksamkeit nicht nur Carmens an sich. Das Wiedersehen Carmens mit Don Jose wird dann sehr deutlich durch die Gegensätzlichkeit des Paares getrübt. Sie streiten täglich und das Wort von der Trennung liegt in der Luft. Carmen (Wilhelma Theater) 2 - Foto C. Kalscheuer Copyright: C. Kalscheuer Die Inszenierung von Matthias Schönfeldt verliert sich immer wieder in allerlei szenischem Klamauk bis hin zu gestellten Vergewaltigungsszenen und dem wirren Betrachten von Männern in Frauenkostümen oder Bademänteln. Man will nicht ganz begreifen, was das eigentlich soll. Und trotzdem verdankt diese Aufführung der hervorragenden Gestaltungskraft von Taxiarchoula Kanati als wilde Zigeunerin Carmen ihre fesselnde Bühnenpräsenz, die sich gegen Ende hin immer mehr steigert. Mit einem Lippenstift scheint sich das unglückliche Liebespaar heftige Wunden zuzufügen. Don Jose erscheint sogar plötzlich mit knallrotem Gesicht. Bei der letzten Szene mit der Ermordung Carmens durch Don Jose kommt es zu einer beklemmenden emotionalen Eskalation, in der beide Protagonisten völlig aufgehen. Das geht wirklich unter die Haut. Die Kette der verrückten Liebesverwechslungen explodiert so auf erschreckende Weise. Tianji Lin als Don Jose überfordert Carmen hier tatsächlich durch seinen totalen und gnadenlosen Besitzanspruch, der sich durch nichts brechen lässt. Außerdem erscheint er als mutterfixierter Kleinbürger. Dass Bizets Oper „Carmen“ allerdings oft Ausdruck des ganzen Körpers und nicht nur der Stimme ist, machen alle Darsteller in ausgezeichneter Weise deutlich. Dieser Aspekt ist Matthias Schönfeldt als Regisseur am besten gelungen. Gleichzeitig kommt die erregende Atmosphäre der Stierkampfarena zu kurz. Die Menschenmassen befinden sich nämlich zuletzt nicht im Hintergrund, sondern bevölkern die sehr beengte Bühne. Dadurch geht viel von der elektrisierenden Atmosphäre verloren. Durchweg Erfreuliches gibt es aus dem Orchestergraben zu berichten, denn der umsichtige Dirigent Per Borin erfasst den Charakter der opera comique mit tragischem Ausgang sehr gut. Der Marsch der Gassenjungen sowie Habanera, Seguidilla und das Kastagnettenlied mit den Trompetensignalen besitzen dabei furios-glühendes Feuer. Außerdem werden die Sängerinnen und Sänger von den durchaus einfühlsamen Orchestermusikern immer wieder getragen. Der Grundkonflikt blitzt in der mit Intensität gestalteten Ouverüre mit ihrem dramatischen d-Moll-Motiv bei der Stierkampfmusik grell auf. Carmens Aufbegehren und Freiheitswillen wird von Taxiarchoula Kanati mit leuchtkräftiger Intensität gestaltet, Intervalle und Dissonanzen brennen sich dabei unvergesslich ins Gehör. Von dieser hochbegabten Mezzosopranistin wird man sicherlich noch viel hören. Leitmotive und ausgefeilte Dynamik arbeitet der Dirigent mit dem exzellenten Hochschulsinfonieorchester der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst plastisch heraus. Die schlendernde Bewegung der Menge und die spanische Hitze berühren das Publikum unmittelbar. Maria Taxidou nimmt als fesselnde Micaela erst ängstlich und dann schelmisch den neckenden Ton der Soldaten auf und entwischt schließlich „wie ein Vogel“. Das Schicksalsmotiv der Carmen mit seiner absteigenden Skala (die auf der Dominante endet) wird mit scharfen Konturen herausgemeisselt. Auch die ungebrochene Kraft der melodischen Erfindung sowie die durch feinste Klangzerlegungen bedingten Farben des Orchesters bilden immer wieder einen zentralen harmonischen Mittelpunkt, den das Hochschulsinfonieorchester glänzend einfängt. Das seltsame Schweben zwischen Dur und Moll beim Vorspiel zum zweiten Akt sowie das zarte Gewebe von Don Joses „He holla! Halt, wer da?“ besitzen unmittelbare Strahlkraft. Die leidenschaftliche Liebe des Spaniers zum Stierkampf, die sich hier in der Musik Bahn bricht, hätte man sich auch von der szenischen Gestaltung gewünscht. Auflockernde Wirkung besitzt aber Catarina Moras choreographische Mitarbeit. Per Borins Stärke als Dirigent ist eindeutig der Klangfarbenreichtum, was sich bei den situationscharakteristischen Abwandlungen des Carmen-Motivs wiederholt zeigt. Die dramatisch bedingten Empfindungsgehalte werden von den Sängern der Hauptrollen in bewegender Weise hervorgehoben, das gleiche gilt für die präzis akzentuierten Motivcharakterisierungen. Die musikalische Darstellung szenischer Bewegungsvorgänge gehört zu den weiteren Stärken dieser sehenswerten Neuproduktion der Stuttgarter Musikhochschule, deren Opernschule wirklich überragende Talente besitzt. Harmonische Kühnheiten geben dem Bühnengeschehen so vibirierende Spannungskraft. Das Kartenterzett der drei Mädchen gefällt ebenfalls mit atemlos huschenden Streicher-Sechzehntelketten, wobei der Übergang nach f-Moll mit Carmens düsterem Gesang besonders eindringlich erklingt. Da beweist Taxiarchoula Kanati einmal mehr unmittelbaren Sinn für heftigste Gefühlsausbrüche: „Toujours la mort!“ Schauspiel und Gesang finden so in beglückender Weise zusammen. Im Finale überrascht Tianji Lin als Don Jose das Publikum beim flehenden b-Moll-Teil mit leidenschaftlicher Melodik, wobei sein Tenor hinsichtlich der voluminösen Gestaltungskraft noch entwicklungsfähig ist. Da wünscht man sich zuweilen noch mehr Glut und Feuer. Recht gut fängt Per Borin als Dirigent den Gegensatz von geschlossener chorischer Form und freier rezitativischer Deklamation ein. Dies zeigt sich vor allem beim stürmisch interpretierten „Stierfechtermarsch“ in G-Dur und A-Dur. Zupackend wird der sieghafte Refrain des Torerocouplets vom Chor in Fis-Dur gestaltet. Der Fortissimo-Einsatz des Orchesters mit dem „Schicksalsmotiv“ unterstreicht erschreckend den letzten, verzweifelten Ausbruch Don Joses. In einer weiteren Rolle gefällt noch Simon Stricker als Sergeant Morales. Fazit: Die Inszenierung von Matthias Schönfeldt stellt insbesondere nuancenreich heraus, wie Micaela (die von Don Jose auf der Bühne hier auch körperlich begehrt wird) Don Jose von der dämonischen Frau abzubringen versucht. Im Finale wird auch die Schmugglerszene durch die Coda aufblitzend beleuchtet. Begeisterten Schlussapplaus gab es vor allem für die jungen Sänger. (Choreinstudierung: Jan Croonenbroeck). Erstaunlich ist bei dieser Inszenierung, dass sogar ein Dirigent über die Bühne huscht. Alexander Walther

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10 June 2015onlinemerker.comAlexander Walther